WALKER - eine Kurzgeschichte von FRIENDS (03.04.2012)

Es hatte den Anschein, als hätte die Sonne ihre Kraft schon in den frühen Morgenstunden voll zur Entfaltung gebracht. Unbarmherzig prügelte sie ihre Strahlen auf die kleine Veranda des einzigen Hauses weit und breit, in deren Schatten das an der Hauswand hängende Thermometer um neun Uhr bereits eine Temperatur von 82,4 °F anzeigte.
Im Haus selbst hingegen war es stockduster. Sämtliche Türen und Fenster waren verbarrikadiert, mit schweren Vorhängen abgedeckt und nur der Schein einer Kerze auf dem Küchentisch, an dem Chris Walker saß, der geistesabwesend auf den Artikel einer mehrere Monate alten Zeitung starrte, erhellte diesen Raum spärlich.
Erst bei genauerem Hinsehen konnte man die wenige Meter entfernt zu seinen Füßen seltsam verdreht liegenden und leblosen Körper einer jungen Frau und eines höchstens sechs oder sieben Jahre alten Jungen erkennen. Chris hatte beide mit einem gezielten Kopfschuss aus seiner 44er Automatik niedergestreckt und sie dort liegen lassen, wo sie zu Boden gegangen waren.

Als er den Abend zuvor auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf für die Nacht im Haus auf sie gestoßen war, hatte er sich gewundert, dass er nur die beiden dort antraf. Doch das hatte es umso einfacher für ihn gemacht.
Er hatte getan, was getan werden musste. Das Töten war ihm längst nicht mehr fremd. Und eigentlich fiel es ihm auch nicht mehr schwer. Aber ein Kind… das war für ihn eine vollkommen neue Erfahrung.
Er selbst war einst stolzer Vater gewesen, doch seine Frau und seine kleine Tochter waren nun tot. Alles hatte seinen Sinn verloren und manchmal fragte er sich, welchen Grund es für ihn gab, weiterzuleben.
Er war alleine. Die ganze Welt jagte ihn jetzt. Niemand würde Mitleid mit ihm haben und nur die Hölle würde noch auf ihn warten.

Das Haus hatte sich für ihn als Glückstreffer erwiesen. Neben dem Werkzeugraum im Keller hatte er auch noch einen separaten Vorratsraum entdeckt, der bis oben hin mit Konserven und destilliertem Trinkwasser vollgestopft war.
Da hatte jemand Vorräte angelegt, als ob der dritte Weltkrieg bevorgestanden hätte. Nun, jetzt hatten sie ihren Krieg. Auch wenn der anders aussah, als er oder irgendjemand sich das hätte vorstellen können.

Chris Walker war Ende 20 und nur die dunklen Ringe unter seinen Augen machten ihn etwas älter. Ansonsten war er eher der Typ, den Mütter sich als ihren Schwiegersohn gewünscht hätten.
Andererseits wurde niemand als Massenmörder geboren und das Grauen hatte selten ein Gesicht, das sich unübersehbar von der Menge abhob.
Chris’
Vater war bereits vor vielen Jahren wegen Mordes hingerichtet worden. Doch niemandem wurde so etwas in die Wiege gelegt. Jedenfalls redete er sich das ein.

Zum wiederholten Mal versuchte er sich beinahe verzweifelt auf den Artikel in der vor ihm auf dem Tisch liegenden Zeitung zu konzentrieren.

Energiekonzern stellt Bohrungen im ganzen Staat ein!


Doch so sehr er sich auch anstrengte, war ihm dennoch nur eine sehr selektive Wahrnehmung des gesamten Artikels möglich.

…unzählige Klagen verunsicherter und verängstigter Anwohner…

…Kontamination des Grundwassers…

…wurden im Trinkwasser erhöhte Konzentrationen u.a. von Korrosionsschutzmitteln, Methan, Magnesiumnitrat , Magnesiumchlorid, Oxydationsmitteln, Schwefelwasserstoffen, Latexpolymeren, Quecksilber, Tetramethylammoniumchlorid, Bioziden, Octylphenolethoxylat, Säuren,… festgestellt…


Die komplette Auflistung der gefundenen Schadstoffe nahm mehr als eine dreiviertel Seite ein und jeder Mensch, der halbwegs bei Verstand gewesen war hätte wissen müssen, dass das nicht ohne Folgen bleiben konnte.
Doch Chris, der damals für den Energiekonzern als leitender Ingenieur tätig und für die Bohrungen in einem Teil des Landes verantwortlich gewesen war, hätte es am besten wissen müssen. Aber alle hatten die offensichtliche Gefahr ignoriert. Der Konzern, die Medien, die Behörden, die Regierung und letztlich er selbst.

Dann waren erste Berichte aufgetaucht. Von völlig gesunden Menschen, die in der Nähe von Bohrtürmen gewohnt hatten und urplötzlich unter starken Kopfschmerzen, Übelkeit, Hautausschlag, Haarausfall, Karzinomen und weiteren ernsthaften Erkrankungen gelitten hatten. Doch der Energiekonzern hatte bei diesbezüglichen Anfragen immer wieder auf seine Pressestelle verwiesen, laut der es nicht nachzuweisen war, dass diese Erkrankungen in einem kausalen Zusammenhang zu den vom Konzern durchgeführten Bohrungen standen. Und sie hatten jedem die Scheiße aus dem Hals geklagt, der dennoch etwas anderes behauptete.
Schließlich waren Gerüchte laut geworden, dass es im ganzen Land zu mysteriösen Vorfällen gekommen wäre, bei denen bis zu diesem Zeitpunkt vollkommen unauffällige Bürger plötzlich und ohne jeden Grund wie Tiere über ihre Mitmenschen hergefallen waren und diese abgeschlachtet - andere behaupteten angefressen - hatten.
Anfangs hatten der Konzern und einige Behörden versucht, die Vorfälle zu vertuschen, hatten abgewiegelt. Irgendwelche Wahnsinnigen wären da zu Werke gewesen. Aber sie mussten feststellen, dass sich das Ganze sehr schnell zu einer Epidemie und schließlich sogar zu einer Pandemie entwickelte. Die Erkenntnis, dass sie es nicht mehr kontrollieren konnten, kam viel zu spät. Chaos und Anarchie hatten längst um sich gegriffen, die Infrastruktur war zusammengebrochen und keine Armee der Welt hätte das aufhalten können, was danach gekommen war, ohne den gesamten Planeten in die Luft zu jagen.

Resigniert wischte Chris die Zeitung mit dem Arm vom Tisch. Er hatte seine Chance gehabt. Er hatte sie vertan. Und das hatte ihn zu einem Mörder gemacht.
Langsam, fast wie in Zeitlupe erhob er sich von seinem Platz und ging auf das Küchenfenster zu. Vorsichtig schob er den dunklen Vorhang ein wenig zur Seite, um durch einen kleinen Spalt des Bretterverschlags, den er in der Nacht noch aus herumstehenden Möbeln zusammengezimmert hatte, nach draußen zu blicken.
Und da waren auch schon die ersten von ihnen. Ganz sicher würden es bald noch mehr werden. Vielleicht noch ein oder zwei Tage, dann wäre er hier nicht mehr sicher.

Walkers – Wanderer – nannte er diese Wesen. Jetzt nur noch geist- und seelenlose Kreaturen. Zum Teil bedauernswert anmutend, andere wiederum grässlich und auf unvorstellbare Weise von Krankheiten, schwersten Verletzungen und Verstümmelungen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ausgeburten eines nicht enden wollenden postapokalyptischen Albtraums, der nun Wirklichkeit geworden war. Eine Legion des Grauens, deren einziger Antrieb in der Gier nach frischem Fleisch – egal, ob Mensch oder Tier – bestand, was sie nun immer häufiger dazu zwang, rast- und scheinbar orientierungslos über das Land zu ziehen und durch die Wälder zu streifen. Weil es in den Städten, in denen sie einmal gelebt hatten schon längst nichts mehr gab, über das sie herfallen, das sie fressen oder wenigstens infizieren konnten.

Eigentlich erging es Chris nicht anders. Auch aus ihm war ein Walker, ein rast- und ruheloser Wanderer geworden. Mit dem Unterschied, dass er noch lebte.

Noch…


Sämtliche Rechte bei Frank S., Düsseldorf

Teil des Sammelbandes "DER TEUFEL KOMMT MIT EINEM LÄCHELN" WALKER



vip

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