Frau komA kommt - eine Kurzgeschichte von FRIENDS (15.05.2013)

Man hatte ihn in der Schule immer wieder gedemütigt. Ihn in sozialen Netzwerken gemobbt. Schließlich hatte man ihn auf dem Schulhof verprügelt. Ihn, der nicht mal einer Fliege etwas zu Leide tun konnte. Vielleicht war er deshalb ein so leichtes Opfer für sie gewesen?
Die Abreibung, wie sie es nannten, war sogar von irgendjemand mit dem Handy gefilmt und das Video im Internet auf einer eigens hierfür vorgesehenen Plattform zur Schau gestellt worden.
Niemals zuvor hatte er sich selbst verteidigen müssen. Das hatte immer sein vier Jahre älterer Bruder übernommen. Bis vor einem Jahr, als der bei einem Badeunfall ums Leben gekommen war. Damals hatte der Terror begonnen und das war nicht der einzige Grund, warum er ihn in diesem Augenblick so schmerzlich vermisste.


*

Alles hatte zunächst beinahe harmlos angefangen. Ein kleiner Schubser hier, eine abwertende Bemerkung da. Ohne Grund. Jedenfalls war ihm bis zum heutigen Tag keiner bewusst.
Ok! Die Halbstarken in der Schule knöpften sich immer wieder einen von ihnen vor. Von denen, die sich nicht wehren konnten oder wollten. Das war so eine Art Sport für sie. Aber bei ihm war es irgendwie anders gewesen. An ihm hatten sie offensichtlich einen Narren gefressen. Und was für Ricky unerträglich war: selbst diejenigen, die bereits am eigenen Leibe erfahren hatten was er nun durchmachen musste, hatten Gefallen daran gefunden, sich an der körperlichen wie seelischen Folter seiner Person zu beteiligen. Er hatte sich eingeredet, dass sie das nur taten, um sich vor den Schlägern zu profilieren. Damit sie selbst nicht eines Tages erneut zum Ziel wurden. Doch das war nur ein schwacher Trost gewesen und in keiner Weise zu entschuldigen.
Das Schlimmste an seiner Situation aber war, dass er sich niemandem anvertrauen konnte.

Ricky war 12 Jahre alt. Ein zierlicher aber hübscher Junge, der die Natur und Tiere liebte. Von überdurchschnittlicher Intelligenz. Sehr introvertiert und auf jemanden, der ihn nicht näher kannte, erweckte er gar den Eindruck, als weise er zumindest annähernd autistische Wesenszüge auf. Doch eigentlich redete Ricky nur einfach nicht gerne. Viel lieber und so oft es ihm möglich war, lebte er in seiner eigenen kleinen Welt, in der zwar auch nicht alles besser war als in der realen. Dafür war es seine Welt. Eine Welt, die es ihm gestattete seine Wunschvorstellungen von einer in seinen Augen perfekten Welt mit seinen Erlebnissen in der realen Welt auf eine für ihn annehmbare Weise zu verknüpfen. Eine Welt, in der es Menschen gab, die Verständnis für ihn und seine Sorgen sowie Nöte fanden. Die ihm Schutz gewährten und die Geborgenheit gaben, nach der er sich so verzweifelt sehnte.
Wahrscheinlich würde es nur sehr wenige Menschen geben, die das - die ihn - verstehen konnten. Und den einzigen Menschen, den er gekannt hatte und der dazu in der Lage gewesen war - seinen Bruder - hatte er verloren.

Was seinen Vater anbetraf, so war auch dieser sehr naturverbunden. Damit waren jegliche Gemeinsamkeiten allerdings erschöpft. Tiere erlegte er lieber bei der Jagd mit seiner doppelläufigen Schrotflinte. Und auch in anderer Hinsicht gehörte er eher zu der grobschlächtigen Sorte seiner Art. Mit begrenztem Horizont und schon immer unfähig, ein Mindestmaß an Sensibilität - wenigstens für die ihm nahe stehenden Menschen - zu entwickeln. Er hielt Ricky für verweichlicht. Und hätte der ihm von seiner Pein erzählt, hätte er ihn sicherlich angeschrien er solle sich gefälligst wehren. Im ungünstigsten Fall hätte er Ricky für seine Feigheit selbst noch die Hirse aus dem Balg geprügelt. Keine für ihn annehmbaren Optionen.
Und Rickys Mutter? Sie hatte die Familie drei Jahre nach seiner Geburt im Stich gelassen. Heute konnte er sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie sie ausgesehen hatte.

Die Lehrer und die Schulleitung hatten schon vor langer Zeit damit begonnen wegzusehen. Aus Überforderung oder vielleicht sogar aus Angst. Wenn sie sich dennoch einmal gezwungen sahen etwas zu unternehmen, hielten sich die erzieherischen Maßnahmen insoweit in Grenzen, als dass sie die Bestraften umso mehr motivierten ihre perfiden Spielchen endgültig auf die Spitze zu treiben.
Schließlich waren da noch die Mitschüler in seiner Klasse. Für sie war es einfacher ihn und seine Probleme zu ignorieren oder selbst mitzumachen, als für ihn Partei zu ergreifen. Jeder war sich selbst der Nächste.


*

Mehr als einmal hatte Ricky zu Hause stundenlang an seinem Computer gesessen und auf die Seite gestarrt, die er einige Zeit zuvor im Netz gefunden hatte. Auf der ebenfalls Betroffene ihr Leid klagten und sich austauschten. Von ihren Erfahrungen erzählten.
Soweit war es schon gekommen, dass die Stunden vor dem Computer - auf dieser Seite - inzwischen das Einzige gewesen waren, das ihm Halt gegeben hatte. Er hatte gewusst: Er war doch nicht alleine.
Irgendwann hatte er dann diese beiden verhängnisvollen Sätze im Chat mit einem anderen Jungen geschrieben, der offensichtlich ein noch viel größeres Martyrium als er selbst zu erleiden hatte und die ihm daraufhin jede Umkehr unmöglich gemacht hatten:

Hey MobSpot12! Morgen werden sie bezahlen!


*

Ein kurzes aber eindringliches Knacken ließ vermuten, dass unmittelbar eine Durchsage über die Lautsprecher folgen würde, die auf jedem Gang des Schulgebäudes und in sämtlichen Klassenzimmern vorhanden waren. „Achtung! Eine wichtige Durchsage der Schulleitung: Frau komA kommt! Bitte verhalten sie sich ruhig, bleiben sie in den Klassenräumen und warten sie auf weitere Anweisungen!“

Ricky wusste, dass seine Aktion nicht unbemerkt bleiben würde. Und das sollte sie auch gar nicht. Schließlich hatte er eine Botschaft zu übermitteln, die für sie alle gedacht war. Ohne über den tieferen Sinn der Durchsage nachzudenken sagte ihm seine Intuition, dass sie mit seiner Aktion in einem direkten Zusammenhang stehen musste. Und damit ging die erste Runde an ihn.

In Todesangst, mit dem eigenen Leben bereits abgeschlossen, lagen seine Mitschüler und Mitschülerinnen - insgesamt achtundzwanzig an der Zahl - nun wimmernd und schluchzend auf dem Boden. Ihr Gesicht in die Handflächen vergraben, die Hände über dem Kopf gefaltet oder in einer seltsam gekrümmten Seitenlage, die unwillkürlich an die Haltung eines Embryos im Mutterleib erinnerte. So oder so gefangen von der einzig verbliebenen Hoffnung, dass sich irgendwer ihrer erbarmte und sie jeden Augenblick aus einem schrecklichen Albtraum erwachen ließ. Doch sie hatten es alle verdient. Jeder und jede Einzelne von ihnen. Und sie wussten, dass sie es verdient hatten. Ganz genau!
Obwohl er den Blickkontakt suchte, wagte es niemand ihn offen anzusehen. Bis auf die Biologie-Lehrerin, die schützend über zwei weinende Mädchen gebeugt unter einem Tisch der ersten Sitzreihe lag, nachdem Ricky als nachdrückliche Absichtserklärung den ersten Schuss aus der doppelläufigen Schrotflinte in die Decke des Klassenraums abgefeuert hatte.

„Ricky, bitte!“ Für das verräterische Zittern in ihrer Stimme konnte es nach Rickys Ermessen nur einen einzigen Grund geben. Sie war ebenso schuldig wie alle anderen. Nur hatte sie sich noch nicht ihrem Schicksal ergeben. Im Gegensatz zu den anderen bettelte sie um ihr Leben. 

Ohne die Anwesenden im Raum aus dem Blick zu verlieren, ließ er die Gedanken in seinem Kopf rotieren. Er hatte sich das alles ganz anders vorgestellt. Sollte er in diesem Moment nicht ein Gefühl wie Überlegenheit - oder besser noch - Genugtuung verspüren? Sollte er sich nicht an der Angst und Hilflosigkeit derer, die sich das schließlich selbst zuzuschreiben hatten ergötzen können? Doch nichts davon stellte sich ein. Im Gegenteil. Niemals zuvor hatte er sich emotional so leer gefühlt. Aber ein Zurück gab es nun nicht mehr. Er hatte bereits zu lange gewartet, dass sich irgendwie alles doch noch zum Guten wenden würde. Und wenn er es jetzt nicht zu Ende brachte, würde sein Leidensweg sicher wieder von vorne beginnen. Wahrscheinlich würde es sogar noch schlimmer werden als vorher. Jeder würde ihn auch weiterhin für einen Feigling halten. Er war kein Feigling!

Ricky lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und glitt abwärts in eine hockende Position. Er schloss kurz seine Augen und dachte an Wald, Sonnenschein, Vögel, Schmetterlinge. An seinen Bruder Tom. Tom! Wenn du jetzt nur bei mir wärst. Du wüsstest, was zu tun ist.
Langsam öffnete er die Augen wieder und sagte mit leiser aber fester Stimme: „Freitag, der 13. und heute ist mein 13. Geburtstag. Was für ein Scheißtag!“

Dann drückte er ab…


*

Den Anblick des leblosen Körpers auf dem Boden und die Überreste dessen, was einmal Rickys Kopf gewesen, nun auf der gesamten Wand hinter ihm asymmetrisch verteilt war und zudem von der Decke über ihm auf den Boden heruntertropfte, sollten weder seine Mitschüler, seine Biologie-Lehrerin noch die hart gesottenen Spezialeinsatzkräfte der Polizei, die unverzüglich nach dem zweiten Schuss das Klassenzimmer gestürmt hatten, für den Rest ihres Lebens vergessen können.


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