"Miller goes shopping" - Eine Kurzgeschichte von Nick Evans (06.05.2010) PART 2

Während er sich langsam in die Richtung bewegte, aus der der Laut gekommen war, ließ Frank Chapman, so hieß der Mann mit der Maske, den Ladenbesitzer nicht einen Moment aus den Augen. Er wusste, dass diese Typen fast immer irgendeine Waffe unter der Theke liegen hatten. Und sei es nur ein Baseballschläger. Sie wurden zu oft überfallen oder hatten von Anderen gehört und/oder gelesen, die überfallen worden waren, als dass sie sich nicht in dieser Richtung absicherten. Aber nur allzu oft brachte sie genau diese vermeintliche Absicherung in Teufels Küche. Sie sahen sich nicht gern in der Rolle der hilflosen Opfer und versuchten die Helden zu spielen und PAAM – lagen sie am Boden und röchelten ihr hilfloses Leben aus.

Chapman hörte erneut ein Geräusch aus der Richtung, aus der schon das erste gekommen war. Diesmal hörte es sich an wie ein leises Wimmern, das aber sofort im Ansatz erstickt wurde. Doch dieser eine Moment, diese eine Sekunde hatte gereicht, um Chapman's Aufmerksamkeit abzulenken und den Lauf der Waffe in die entsprechende Richtung zu schwenken. Und dieser kurze Moment reichte Dworski zum handeln aus. Er hatte in jungen Jahren eine Ausbildung bei den Marines genossen, und war sogar eine Weile Mitglied der SOCOM, des Special Operations Command gewesen, sozusagen eine Elite innerhalb einer Eliteeinheit. Das Wort aufgeben existierte nicht in seinem Wortschatz. Und sicher wäre seine Aktion auch von Erfolg gekrönt gewesen, wenn er nicht eine winzige Möglichkeit übersehen hätte: die Mitwirkung eines Zweiten Mannes.

„Rück' die Kohle raus und wir sind hier Ruck-Zuck wieder draußen.“

Wie hatte ihm das entgehen können? Und als er den ersten Räuber, Chapman, im Visier hatte, war es auch schon zu spät, seinen Fehler zu korrigieren. Denn als in diesem Moment erneut die Eingangstür aufflog und ein zweiter Maskierter mit Waffe im Anschlag den Laden stürmte, überschlugen sich die Ereignisse.



Betrat war sicher nicht das richtige Wort. Enterte wäre sicher der treffendere Ausdruck gewesen. Daniel Miller hatte beobachtet, wie dieser Typ mit der Maske eine Waffe zum Vorschein gebracht hatte, noch ehe er durch die Tür war. Die Straße war um diese Zeit menschenleer – und das war auch gut so. Nicht auszudenken, was für ein Szenario hätte entstehen können, wenn zusätzlich noch irgendwelche Passanten mit ins Spiel hinein gezogen worden wären. Miller wäre beinahe vor Scham errötet, als er sich gewahr wurde, dass er noch vor gar nicht allzu langer Zeit in Begriff gewesen war, ein ähnliches Vorhaben in die Tat umzusetzen. Genau aus dem Grund stand er jetzt hier. Allerdings hatte er den Gedanken in dem Moment wieder verworfen, als sein Verstand die aktuelle Situation erfasst hatte. Sein Instinkt zwang ihn zu einer anderen Handlungsweise. To protect and serve. Der Gedanke hatte sich in sein Hirn eingebrannt und, das wurde ihm schlagartig klar, würde sein Tun in den nächsten Minuten, Stunden – wer konnte das schon genau wissen – beherrschen. Er war noch etwa 50 Meter vom Ort des Geschehens entfernt. Zeit für eine kurze Systemanalyse. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was für eine Situation ihn da drinnen erwartete. Aber er wusste auch, dass er nicht viel Zeit hatte, sich über seine Vorgehensweise Gedanken zu machen. Auf der anderen Straßenseite sah er einen Yuppie, der, während er gedankenverloren vor sich her trottete, irgendwelche Anweisungen über das Headset seines Handys durchgab. Das war doch schon mal ein Anfang. Miller spurtete auf ihn zu und war selber verwundert, wie sportlich er noch für jemanden war, der...verdammt, wie lange nur?...auf der Straße, respektive im Central Park gelebt hatte.

„Sir, tut mir leid, ich brauche ihr Handy. Sofort!“

Der Kerl starrte sein unrasiertes, übelst riechendes Gegenüber nur verständnislos an und machte keinerlei Anstalten, dessen Aufforderung nachzukommen. Miller wusste, dass ihm nicht die Zeit für irgendwelche Scheiß Spielchen blieb. Also zögerte er nicht, dem Mann direkt seine Waffe unter die Nase zu reiben und seine Aufforderung zu wiederholen.

„Sofort!“

Und diesmal reagierte der sofort.

„Und sehen Sie zu, dass Sie hier wegkommen. Hier könnte es nämlich gleich etwas ungemütlich werden.“

Dann tippte er, ohne sich weiter um den Anderen zu kümmern, die 911 in die Tastatur des Handys.

„Schicken sie einen Einsatzwagen und einen Notarzt!“

Er gab die Adresse durch.

„Hier ist ein Überfall mitten im Gange.“

Nachdem er aufgelegt und das Handy in seiner Manteltasche verstaut hatte, wurde ihm bewusst, dass der Rucksack, den er mit sich rumschleppte, bei seinem Vorhaben hinderlich sein könnte. Er zog den Mantel aus, zog den Riemen der Tasche über seinen Kopf auf seine andere Schulter, so dass die Tasche nun quer über seiner Brust baumelte und zog den Mantel wieder an. Dann umfasste er den Kolben der Waffe in seiner Manteltasche und machte sich auf den Weg.



Die Gedanken rasten in Bruchteilen von Sekunden durch Dworski's Schädel. Die Situation war verzwickt. Nein, es war falsch, sich das einzureden. Sie war aussichtslos. Ihm war klar, dass selbst ihm nicht genügend Zeit bleiben würde, alle beide zu erledigen. Also versuchte er das Einzige, dass ihm in seiner Lage zu tun richtig erschien: sich auf die Knie fallen zu lassen, um hinter der Theke Deckung zu suchen. Und in den nächsten, wenigen Augenblicken, die ihm wie Minuten erschienen, geschah Folgendes: er spürte einen Schlag an der Schulter, der seinen Oberkörper jäh zurück warf, und dann einen zweiten in den Bauch, der ihn wieder in seine Ausgangsstellung zurück brachte. Dann, ohne dass er etwas dazu getan hätte, spürte er, wie seine Beine unter ihm nachgaben und sah die Theke, jetzt in rasender Geschwindigkeit, auf sich zukommen. Und schließlich ging das Licht aus. Er bekam nicht mehr mit, wie der zweite Maskierte über die Theke hechtete und sich, die Waffe auf ihn gerichtet, über ihm postierte, um ihm den Rest zu geben.



Daniel Miller wusste, das ihm nun keine Zeit mehr blieb, sich einen Plan zurechtzuschustern als er den maskieren Mann hinter der Theke stehen sah, die Waffe nach unten auf ein Ziel gerichtet, dass er jedoch nicht sehen konnte. Er handelte instinktiv. Die Tür aufstoßen und den Räuber anrufen waren eine Aktion, und als der nun wiederum ihn ins Visier nahm, zögerte Miller keinen Moment, seine Waffe abzufeuern. Einmal, zweimal. Er sah, wie sein Gegenüber von den beiden Projektilen herumgerissen und in das hinter ihm stehende Regal geschleudert wurde und dann zu Boden ging. Gleichzeitig hörte er ein Geräusch aus dem hinteren Teil des Ladens, gefolgt von einer Männerstimme.

„Verpiss dich, Bulle! Ich hab hier hinten zwei Geiseln.“

Dann folgte der kurze, spitze Aufschrei einer Frau.

Der Kerl, wenn es nur einer war, hatte also Geiseln und hielt ihn für einen Bullen. Was jetzt? Er musste den Mann irgendwie aus der Reserve locken; ihn von den Geiseln ablenken. Wohlgemerkt: wenn es nur einer war. Dann fiel ihm der Monitor auf, der, im 10-Sekunden-Rhytmus abwechselnd, die Aufzeichnungen der beiden Überwachungskameras wider gab. Die eine Kamera folgte den vier Gängen in Längsrichtung vom Eingang entlang der Warenregale bis zur Stirnseite. Die zweite zeigte den Quergang entlang der Stirnseite, der von der Ladentheke aus schlecht einzusehen war. Und genau dort, am Ende des Warenregals, welches Gang 3 von Gang 4 trennte, hatte sich der zweite Räuber mit seinen Geiseln in Kauerstellung verschanzt. Miller war klar, dass er die Sache zu einem schnellen Ende bringen musste. Wenn er diesem Scheißkerl die Gelegenheit zum Nachdenken gab, würde es darauf hinauslaufen, dass er ihn mit der Drohung, den Geiseln etwas anzutun, zur Herausgabe seiner Pistole nötigen würde. Und dann wäre er handlungsunfähig – im schlimmsten Falle tot.

„Hören Sie“, rief er, „ich bin nicht von der Polizei. Aber die Polizei wird gleich hier eintreffen. Ich habe sie gerufen, bevor ich hier rein kam. Und dann gibt es für Sie kein zurück mehr. Noch ist nichts passiert. Sie können noch heil aus der Sache raus kommen. Marschieren Sie einfach hier raus, und draußen lassen Sie die Geiseln frei. Ich werde mich Ihnen nicht in den Weg stellen. Ich stehe hier in Gang eins und habe beide Hände über den Kopf erhoben.“

Es verging etwa eine halbe Minute, in der nichts passierte. Dann vernahm Miller eine Bewegung und ein klirrendes Geräusch, das vermutlich von einer zerborstenen Glaskonserve herrührte, die aus einem Regal gefallen war, als der Kerl sich daran abgestemmt hatte, um aus seiner hockenden Position in die Aufrechte zu gelangen. Schritte näherten sich, und schließlich erschien der Mann, der immer noch seine Maske trug, mit seinen beiden Geiseln, einer Frau von etwa Anfang bis Mitte dreißig und einem kleinen Mädchen von etwa fünf Jahren, die er wie einen Schutzschild vor sich herschob. Miller hielt beide Hände hoch in die Luft gestreckt, den Kolben der Waffe immer noch fest umschlossen.

„Wie Sie sehen, habe ich nicht gelogen“, sagte Miller in möglichst ruhigem Ton, und in dem Augenblick meinte er zu erkennen, wie sich die Lippen seines Kontrahenten zu einem grausamen Lächeln verzogen.

„Dein Fehler, Bulle. Was mich betrifft – ich habe keine Versprechungen gemacht. Sag cheeeeeese!“

Miller sah den Lauf der Waffe auf sich gerichtet und musste sich eingestehen, dass er sich den Verlauf der Geschichte so nicht vorgestellt hatte. Gleichzeitig verspürte er einen Schlag gegen die Brust, der ihn zurück warf und rücklings zu Boden gehen ließ. Er registrierte, dass der Mann sich nun seines Sieges sicher genug war, um die Frau und das Kind loszulassen und mit langsamen Schritten, die Waffe locker am Körper herab hängen lassend, auf ihn zu kam. Miller hatte keine Ahnung, wie es ihm gelang, angeschlagen wie er war, wiederum seine Pistole in Anschlag zu bringen und gleichzeitig abzudrücken. Aber wenn er das hier überlebte, würde er sich an das überraschte Entsetzen in den Augen des Maskenmannes erinnern, als dieser getroffen zusammenbrach.



In weiter Ferne waren die Sirenen der eintreffenden Polizei und des Notarztwagens zu hören. Miller lehnte halbwegs aufrecht sitzend mit dem Rücken an der Ladentheke, und die junge Frau, die Marilyn van der Gruiten hieß, hatte sich auf dem Boden neben ihn niedergelassen.

„Sie sind nicht wirklich von der Polizei, oder!?“

Miller schüttelte kaum merklich den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Ich weiß es wirklich nicht.“

„Ich weiß nicht, warum Sie getan haben, was Sie getan haben. Aber ich werde Ihnen ewig dankbar sein. Und meine Tochter auch.“

„Schon gut“, sagte Miller. „Seien Sie so gut und schauen hinter die Theke, wie's dem Ladenbesitzer geht.“

Marilyn van der Gruiten verschwand hinter der Theke, während Miller an sich herunter sah und nach etwas wie einer blutenden Wunde suchte. Aber er konnte nichts erkennen, weil ihm immer noch die Umhängetasche vor der Brust hing. Er schob sie beiseite, konnte aber immer noch nichts erkennen. Natürlich, das war's: irgend etwas im Inneren der Tasche musste die Kugel, die ihm gegolten hatte, abgehalten haben. Miller öffnete die Tasche und nahm ihren Inhalt genauer unter die Lupe. Dann öffnete er auch die Brieftasche, in der das Projektil steckte und war nicht über die Maßen überrascht, als er die Polizeimarke entdeckte, die das Geschoss aufgehalten hatte und unmittelbar daneben das Foto eines Mannes in Polizeiuniform, der ein bisschen Ähnlichkeit mit Perry King in jüngeren Jahren aufwies. So seh' ich also unter dem ganzen Dreck und Fell aus, dachte er. Aber wirklich einen Reim auf die ganze Sache konnte er sich erst machen, als er die Zeitung, in die seine Waffe eingewickelt gewesen war und die vom 13. April 2007 datierte, auseinander faltete und den Artikel auf der ersten Seite las.


Police Detective unter Mordverdacht

Neue Erkenntnisse im Fall der ermordeten Familie des dem Raubdezernat zugehörigen Police Detectives Daniel M.?

Die zunächst in Richtung eines Raubmordes abzielenden Ermittlungen im Fall der in der Nacht vom 03. Februar auf den 04. Februar 2007 getöteten Amanda M. und deren beiden Kindern Ralph und Emilie, konzentrieren sich neuerdings auf den Ehemann und Vater der Familie. Der 42-Jährige konnte bisher nicht zu den Anschuldigungen befragt werden, da er sich offensichtlich auf der Flucht befindet. Der Verdacht war aufgekommen, nachdem eine Nachbarin der Familie den Detective in der Mordnacht mit blutverschmierter Kleidung...



Marilyn van der Gruiten's Stimme riss Daniel Miller in die Gegenwart zurück.

„Ich bin keine Ärztin, aber ich denke, er wird’s überleben.“

O Gott! Ganze drei Jahre war er von der Bildfläche verschwunden gewesen. Amanda und die Kinder hatten ihn also nicht verlassen. Sie waren tot, und wenn er es bisher nicht gewusst hatte, war es dann nicht auch möglich, dass die Zeitungsschmierer recht hatten? Jedenfalls, so, wie er das jetzt sah, hatte er das Schlimmste erst noch vor sich.

In diesem Moment stürmte die Polizei das Geschäft.



„Du bist jetzt ein Held, Danny-Boy. Keine Zeitung in New York, die nicht über dich schreibt.“

Daniel Miller stand frisch geduscht und rasiert in seiner Uniform vor dem Spiegel des Toiletten-Vorraums und richtete seine Krawatte. In einer halben Stunde sollte er vom Bürgermeister seine Auszeichnung für heldenhaftes Verhalten in Empfang nehmen.

„Ja, aber wenn du nicht so hartnäckig gewesen wärst, könnte ich jetzt genauso gut wegen Mordes im Knast sitzen.“

Detective Walter Applecot übte sich in Bescheidenheit. „Das pure Glück. Wenn diese Drecksau nicht dämlich genug gewesen wäre, drei Tage nach deinem Verschwinden in der unmittelbaren Nachbarschaft noch mal ein ähnliches Ding abzuziehen...wer weiß? Aber mach dir um Himmels Willen jetzt darüber keine Gedanken mehr. Die Sache ist gegessen.“

Doch Amanda und die Kinder waren tot. Daran würde nichts etwas ändern. Aber vielleicht konnte er es ja schaffen ein neues Leben zu beginnen. Er war jedenfalls fest entschlossen, es wenigstens zu versuchen.

To protect and serve.




Sämtliche Rechte an „Miller goes shopping“ liegen bei Nick Evans





vip

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