COURAGE CIVIL (courage civique Teil 2) - eine Kurzgeschichte von FRIENDS (06.11.2010)

courage civil (franz.) = Zivilcourage

Auftreten gegen die öffentliche Meinung, mit dem der Einzelne, ohne Rücksicht auf sich selbst, soziale Werte oder die Werte der Allgemeinheit vertritt, von denen er selbst überzeugt ist (
WIKIPEDIA)



Rocco verspürte ein nie zuvor gekanntes Gefühl tiefster Zufriedenheit. Und von Nichts und Niemandem würde er sich diesen Abend versauen lassen. Auch nicht von den beiden Blödmännern, die da vorne an der Theke seiner Stammkneipe erst aneinander geraten waren und sich jetzt gegenseitig, wie die Hirnverbrannten, das letzte bisschen Verstand aus der Rübe prügelten.

Früher! Ja, früher wäre das etwas für ihn gewesen. Da wäre er - einfach nur so - dazwischen gegangen. Und diese beiden Hampelmänner hätten erst auf der Intensivstation wieder zu sich gefunden.
Doch diese Zeiten waren lange vorbei. Er hatte sich geändert, ging jeder erdenklichen Konfrontation aus dem Weg und hatte seinen Frieden mit der Vergangenheit und sich selbst gemacht. Dem Himmel sei Dank, hatte er seine Lektion früh genug gelernt.

Alles, was ihn in diesem Augenblick interessierte, war das kleine mit Samt überzogene Plastiketui in seiner Hand. Er wusste nicht, zum wievielten Male an diesem Abend er es schon geöffnet und das feingliedrige Kettchen mit dem goldenen Herzen daran betrachtet hatte. Ob es ihr gefallen würde?
FÜR IMMER hatte er auf beiden Seiten des Anhängers eingravieren lassen. Er war kein Mann großer Worte. Nie gewesen und würde es auch nie werden. Doch sie würde es verstehen. Und darauf kam es an.

Als Adonis konnte man Rocco nicht gerade bezeichnen. Vielmehr gehörte er zu diesen Typen, bei denen man sich, wenn man ihnen auf der Straße begegnete und sie nicht näher kannte, geneigt sah, vorsichtshalber die Straßenseite zu wechseln.
Es sollte ja Frauen geben, die sich von solchen Kerlen angezogen fühlten. Aber selbst wenn es sie gab, hatte Rocco noch keine von ihnen kennengelernt. Bis vor kurzem jedenfalls nicht.

Jemand hatte vor einiger Zeit offensichtlich beim Ein- oder Ausparken das Rücklicht seines Wagens beschädigt und an der Windschutzscheibe einen Zettel befestigt, auf dem lediglich eine Mobilfunknummer vermerkt war. Ein kurzer Anruf hatte genügt, bis sich herausstellte, dass der Verursacher des Schadens eine Frau gewesen war.
Nach mehreren Entschuldigungen und Erklärungsversuchen für ihre Fahrerflucht hatte sie Rocco angeboten, sich am nächsten Tag mit ihm zu treffen und die erforderlichen Formalitäten mit ihm abzuwickeln. Als Treffpunkt hatten sie sich auf ein kleines Café in der Stadt geeinigt.

Sie durfte einige Jahre jünger sein als er selbst und gehörte zu den nüchtern-herben Schönheiten, bei denen man nie wirklich wusste, was tatsächlich ihren Reiz ausmachte. Für Rocco hatte sie jedenfalls eben diese Unwiderstehlichkeit an sich, die ihn seit ihrem ersten Zusammentreffen geradezu magisch anzog.
Beide hatten sich von Beginn an verstanden. Und sie hatte sich von seinen äußerlichen Unzulänglichkeiten in keiner Weise beeindrucken lassen. Im Gegenteil: nachdem sie die Angelegenheit mit dem Rücklicht innerhalb von 15 Minuten geklärt hatten, hatten sie noch fast zwei Stunden zusammen gesessen und über Gott und die Welt geredet.

Das lag nun drei Monate zurück. Seither hatten sie sich viele Male miteinander verabredet, und sie waren sich inzwischen sehr nahe gekommen. Jedoch ohne, dass dies Konsequenzen gehabt hätte. Heute allerdings würde etwas passieren. Da war Rocco sich sicher.
Er hatte sie zu sich nach Hause zum Abendessen eingeladen. Sie hatte dankend angenommen und geheimnisvoll dazu bemerkt: „Wer weiß, was sonst noch an diesem Abend geschieht?“.

Rocco klappte die Plastikschachtel wieder zu und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. Ein kurzer Augenblick des Zweifels, der ihm jedoch wie eine Ewigkeit erschien, versuchte plötzlich, jeden klaren Gedanken an den weiteren Verlauf des geplanten Abends unmöglich zu machen.
Wie oft hatte er sie schon zum Lachen gebracht? Mindestens ein dutzend Mal, wenn nicht öfter.
Aber ihre Augen. Ihre Augen lachten niemals. Und - zum Teufel, warum auch immer - er, Rocco, der Typ, vor dem so ziemlich jeder den er kannte Schiss hatte, hatte sich bisher nicht getraut, sie nach dem Grund dafür zu fragen.
In gewisser Weise ging es an diesem Abend um viel mehr. Wenn er es heute nicht schaffte…

Rocco schob die Wolken an seinem gedanklichen Horizont beiseite. Alles würde gut werden. Ganz sicher würde sie sich über sein Geschenk freuen. Und dann würden endlich auch ihre Augen leuchten!

Es war an der Zeit zu gehen. Es galt, einen perfekten Abend vorzubereiten.



Ein letzter Spritzer Parfüm, und sie war so weit. Nachdem sie sich nochmals kritisch im Spiegel betrachtet hatte, sah sie auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie noch eine halbe Stunde Zeit hatte.
Im Wohnzimmer griff sie sich eine Zigarette aus der Schachtel auf dem altmodischen Nierentisch, zündete sie an und ließ sich dabei auf das bequeme Sofa fallen. Mit der Fernbedienung schaltete sie die Stereoanlage ein und während sie sich von leiser Instrumentalmusik berieseln ließ und ihr Blick dem Rauch folgte, der sich kräuselnd auf die Zimmerdecke zubewegte, stellten sich bei ihr längst vergessen geglaubte Erinnerungen wieder ein. Erinnerungen an glückliche Zeiten, die für sie, obwohl sie erst zwanzig Jahre alt war, so weit entfernt und längst so wenig greifbar waren, dass sich ihr Verstand weigerte, deren Existenz zu akzeptieren.

Zuneigung und Geborgenheit waren mittlerweile für sie zu hohlen Vokabeln geworden, deren wahre Bedeutung in einem Meer von Schmerz, Trauer und Selbstzweifeln der vergangenen Jahre untergegangen waren.
Nachdem ihre Mutter vor 14 Jahren gestorben war, hatte sie auch den letzten Halt in ihrem Leben verloren. Eigentlich war ihre Mutter nicht gestorben, sie hatte lediglich aufgehört zu leben. Doch damit hatte sie auch das Schicksal ihrer eigenen Tochter besiegelt.
Die Großeltern hatten dann alles Menschenmögliche getan, um ihr den Weg für eine Zukunft zu ebnen, die sich ihre Eltern für sie gewünscht hätten. Doch es war ein vergebliches Unterfangen gewesen, von vorne herein zum Scheitern verurteilt.
Die traumatischen Erlebnisse ihrer Kindheit hatten bereits jeden derartigen Versuch im Keim erstickt. Und nur er konnte ihr Seelenheil jetzt noch retten.

Sie hatte schon nicht mehr daran geglaubt. Und nun hatte sie ihn doch noch gefunden. Den Mann, der ihr die Möglichkeit gab, sich ihren sehnlichsten Wunsch, den Wunsch nach Freiheit zu erfüllen. Freiheit von jeglichen Zwängen. Freiheit von Angst in jeder nur erdenklichen Form.
Künftig würde sie sich nicht mehr die ständig wiederkehrende und quälende Frage stellen müssen, warum ihr Leben ausgerechnet so und nicht anders verlaufen war. Mit dem heutigen Abend konnte sie damit endgültig abschließen. Und für einen unscheinbaren Augenblick schien sie darüber wirklich glücklich zu sein.



Rocco hatte ein zauberhaftes 3-Gänge-Menue angerichtet. Selbst gemacht wohlgemerkt.
Weniger aus dem Grund, dass er es sich nicht hätte leisten können, einen Lieferanten hiermit zu beauftragen. Dazu hätte es noch immer gereicht. Aber es sollte ein besonderer Abend werden. Und er wollte nichts dem Zufall überlassen.

Trotzdem sollte während des gemeinsamen Abendessens keine rechte Stimmung aufkommen. Einem Außenstehenden hätte sich eher der Eindruck aufgedrängt, dass sich zwei wildfremde Menschen in einem x-beliebigen Restaurant gegenüber saßen und sich unabhängig voneinander ausschließlich der Nahrungsaufnahme widmeten, als dass sie sich der Romantik eines Tête-à-tête bei dezentem Kerzenlicht hingaben.
Rocco hatte sich für diesen Abend eine Atmosphäre der Fröhlichkeit und Unbefangenheit gewünscht. Verlegenheit war eine sehr undankbare Alternative hierfür.

Dieses Gefühl, das nun beinahe seit einer Stunde gleichermaßen auf beiden lastete, schien jede Möglichkeit einer ungezwungenen Konversation auszuschließen und beide fixierten wiederholt und verlorenen Blickes das jeweils vor ihnen stehende Rotweinglas. Schließlich sagte Rocco in die für ihn unerträglich erdrückende Stille:

„Lass uns kurz abräumen. Ich habe danach noch eine kleine Überraschung für dich.“

Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie darauf reagieren würde. Umso erstaunter war Rocco, als sie erwiderte:

„Ja, lass uns das Geschirr in die Küche bringen. Ich habe später nämlich auch noch eine Überraschung für dich.“

Es war zum Verrückt werden! Da hatte er diesen Abend seit Wochen geplant, sich eine kleine Ansprache zurecht gelegt, wie sehr er sie mochte und so weiter, und dann machte sie ihm womöglich noch alles kaputt, weil sie ihm vielleicht etwas schenken würde, wogegen er mit seiner lächerlichen Kette samt Anhänger nicht im Geringsten ankam!?
Andererseits: kam es darauf überhaupt an? Zählte nicht die Geste alleine? Spielte der Preis, die Größe oder was auch immer eine Rolle? Oder basierte seine Befürchtung schlichtweg auf seiner Unfähigkeit, sich einer tief sitzenden Zuneigung zu erwehren, der man ebenso mit banalen Dingen des Lebens, wie auch mit unschätzbaren Kostbarkeiten Ausdruck verleihen konnte?

„Jetzt hast du mich aber wirklich neugierig gemacht“, lächelte Rocco sie wie ein schüchterner Schuljunge an und beide begannen umständlich, den Tisch leer zu räumen.



„Na dann wollen wir doch einmal nachschauen, womit wir den heutigen Abend abschließen können.“

Während sie sich den unteren Regionen der Kühltruhe widmete, um die Ansammlung diverser hochprozentiger Spirituosen darin zu untersuchen, nahm Rocco, der am hinteren Ende der Küche lässig halb auf dem Tisch saß, halb an ihm lehnte, wohlwollend zur Kenntnis, dass dabei ihr Rock hoch gerutscht war und einen Blick auf ihre wohlgeformten festen Oberschenkel freigab. Er griff schmunzelnd in seine Hosentasche, kramte das kleine Etui hervor und öffnete es.
Die Kette so haltend, dass er sie von hinten um ihren Hals legen und schließen konnte, bewegte er sich bedächtig auf sie zu.
Wenige Schritte, bevor er sie erreicht hatte, fragte sie, beinahe beiläufig und ohne sich umzudrehen:

„Wo hast du eigentlich die Tätowierung am Unterarm her?“

Rocco hielt abrupt in der Bewegung inne und für einen kaum wahrnehmbaren Moment, kürzer als ein Wimpernschlag, blitzte in ihm ein Gefühl auf, das er schon seit langem nicht mehr verspürt hatte. Noch vor wenigen Jahren hätte er JEDEN alleine für die Frage getötet. Oder anders ausgedrückt: der, der er einmal gewesen war, hätte es getan.

So oder so war es nun zu spät für ihn.

„Ist ’ne Knastgeschichte. Ich hätte es dir sowieso irgendwann erzählt. Hab’ eine Weile gesessen.“

„Grosse Sache?“

„Eher eine Jugendsünde aus Unbeherrschtheit. So ein Blödmann hat sich mit mir angelegt und wir haben beide dafür bezahlt. Ich bin wirklich nicht stolz darauf, aber ich kann es auch nicht mehr rückgängig machen.“

Zum ersten Mal in seinem Leben machte sich ernsthaft körperliches Unbehagen in Rocco breit. Eine Angst, von der er nicht wusste, woher sie kam und wohin sie ihn führen sollte. Keinesfalls durfte dieser Abend so enden.
Er hatte sich immer eine zweite Chance gewünscht. Er hatte sie bekommen und durfte SIE jetzt nicht verlieren. Den einzigen Menschen, der ihm in seinem Leben je etwas bedeutet hatte.

„Lass’ uns einfach über etwas anderes reden. Zum Beispiel, wie es mit uns beiden weitergeht! Und wo wir gerade dabei sind…“

Er machte zwei weitere Schritte auf seine Freundin zu, um ihr die Halskette umzulegen. Sie hatte sich noch immer nicht zu ihm umgedreht. Als er sich ihr bis auf Armlänge genähert hatte, erwiderte sie:

„Bezahlt, sagst du?“

Rechts neben dem Kühlschrank stand eine kleine Anrichte, auf der sich ein hölzerner Messerblock mit fünf Fleischermessern und ein größerer runder Behälter aus Lochblech mit weiteren Küchenutensilien befanden. In diesem Behälter bewahrte Rocco auch mehrere große Fleischgabeln auf. Solche, wie man sie benötigte, um Fleischstücke auf einen Grill zu legen und zu wenden. Damit die Gabeln beim Abstellen nicht beschädigt wurden, stellte er diese immer mit den Gabelenden nach oben in den Behälter.

Die junge Frau richtete sich aus ihrer zuletzt hockenden Position auf, schloss mit der linken Hand die Kühlschranktür und griff mit der rechten nach der größten Fleischgabel. Sie ließ sie kurz in der Luft schweben, um ohne die andere Hand zu benutzen, den Griff der Gabel fassen zu können. Dann drehte sie sich zu Rocco um.

Er musste geahnt haben, was daraufhin unweigerlich geschehen würde, denn er starrte seine Freundin aus weit aufgerissenen Augen ungläubig an. Mit ausdruckslosem Blick rammte sie ihm die Fleischgabel in Höhe des Kehlkopfes in den Hals. Dabei stieß sie mit einer solchen Wucht zu, dass der Mittelteil der Gabel sich vollkommen verbog.
Röchelnd und Blut spuckend ging Rocco daraufhin erst auf die Knie, um dann mit herabhängenden Armen vornüber auf das Gesicht zu fallen. Da die Gabel noch immer in seinem Hals steckte, rutschte deren Griff auf dem Laminatboden nach rechts weg, was seinen Körper dazu veranlasste, nach links auf die Seite zu rollen, um dort regungslos liegen zu bleiben.

Ohne sich zu vergewissern, ob er bereits tot war, ging sie zum Telefon im angrenzenden Wohnzimmer. Sie wählte die Rufnummer der Polizei und nach einem kurzen Klicken am anderen Ende der Leitung, sagte sie mit monotoner Stimme:

„Schicken sie jemanden zur Hauptstrasse 47, 1. Etage. Sie werden dort eine Leiche finden.“

und legte auf. Dann verließ sie den Ort des Geschehens.



Es erforderte bestenfalls routinierte Ermittlerarbeit der Polizei, um zwei Stunden später ein für solche Zwecke speziell ausgebildetes Team von Beamten vor der Wohnungstür der dringend Tatverdächtigen
Laura Sonnenberg zu positionieren. Passanten hatten eine junge Frau beschrieben, die mit blutverschmierter Kleidung zügig, aber ohne offensichtliche Eile, das Mehrfamilienhaus verlassen hatte, in dem das Opfer wohnte, um nur wenige Meter weiter in einem Wohnhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu verschwinden. Nachdem die Spezialeinheit die Wohnungstür ohne jede Vorwarnung gewaltsam geöffnet hatte, war für die Einsatzkräfte allerdings unmittelbar klar, dass in diesem Fall eine Gegenwehr der verdächtigen Person mit Sicherheit ausgeschlossen werden konnte.

Laura hatte sich im Eingangsbereich der Wohnung mit einer Nylonschnur aufgehängt. Auf dem kleinen Sekretär in der Diele fanden die Beamten einen weißen Briefumschlag mit der Aufschrift Abschiedsbrief.
Als der Umschlag geöffnet wurde, fiel ein kleiner Zettel heraus, im Format eines halben DIN A 4-Blattes.
In großen Lettern hatte sie lediglich einen einzigen Satz darauf geschrieben:


AUF WELCHES RECHT KÖNNTE EIN MENSCH SICH BERUFEN, DER EINEM ANDEREN DAS RECHT AUF LEBEN GENOMMEN HAT?


Sämtliche Rechte bei Frank S., Düsseldorf



Lesen Sie auch Teil 1: courage civique



Teil des Sammelbandes "DER TEUFEL KOMMT MIT EINEM LÄCHELN"



vip

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